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Spätdienst anno Herbst 1989

Es ist Sonnabend, der 30. September 1989. Ich habe Spätdienst auf dem 92er und soll in wenigen Augenblicken den 6. Wagen übernehmen. Während ich an der Haltestelle Seeburger Straße/ Klosterstraße auf meinen Wagen warte, befindet sich der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher in Prag und wird um 18:58 Uhr - genau auf die Minute löse ich ab - auf dem Balkon der deutschen Botschaft den wohl berühmtesten Halbsatz der Geschichte sagen: „Wir sind zu Ihnen gekommen um Ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise… “ – der Rest geht in den Jubelschreien der DDR-Flüchtlinge, die die Prager Botschaft schon wochenlang „besetzt“ hielten, unter. Aber das sollte ich erst gegen 21:00 Uhr aus der Abendausgabe der BZ erfahren. Aber zurück zum Anfang: Gegen 18:00 Uhr habe ich zu Abend gegessen und habe mich dann umgezogen. Die graue Diensthose an, das blaue Hemd übergeworfen und die Krawatte wie vor jeden Dienst korrekt gebunden und nach einem Blick aus dem Fenster entscheide ich mich doch den Pullover überzuziehen. Der Fernseher berichtet vom Schicksal der Flüchtlinge in der Prager Botschaft und die Bundesregierung erwartet heute noch Verhandlungsergebnisse. „Der Genscher wirds schon richten!“, sage ich zu meiner Frau und mache mich auf den Weg zum Dienst. Noch schnell das blaue Jackett mit dem Berliner Bären und dem Schriftzug „BVG“ auf dem linken Arm übergeworfen und schon stehe ich im Fahrstuhl. Als ich mit meinem Auto über die Heerstraße zum Betriebshof fahre, ahnt wohl noch niemand, dass in sechs Wochen hier Trabbis und Wartburgs in Dreierreihen Richtung Ku’damm fahren werden. Als ich mein Auto auf dem Betriebshof abstelle, ist an die vielen „Solidaritätsbusse“, die ab dem 9. November 1989 der BVG helfen werden die DDR-Bürger durch den Westteil der Stadt und von und ins Umland zu befördern, noch nicht zu denken. Nun aber ab zur Haltestelle und auf den 13er warten. Die Gespräche der Kollegen drehen sich nur noch um die Lage in der DDR und was dort passieren wird. „Hoffentlich schießen die nicht, wie die Chinesen, wenn es am 7. Oktober zu Demonstrationen kommen sollte!“.„Marienfelde ist voll – seit Ungarn uffjemacht hat, haben schon fast 40.000 Leute rüberjemacht!“. „Mal kieken, wat der Gorbi macht!“. Ja, es war schon eine merkwürdige - gradezu elektrisierte Stimmung - damals. So nun aber: „Bis nachher uffn Hof, Jungs!“, sagte ich noch und stieg am Ziegelhof aus. Da ich noch zehn Minuten Zeit habe, bis ich ablösen muss, rauche ich noch eine Zigarette. Da kommt er ja: „Mahlzeit Fritze, na biste jut durchjekommen?“, „Wie immer! Übrijens Hertha hat 1:0 jejen Freiburg jewonnen hat die Leitstelle jesacht, hoffentlich krichste nachher nicht soviel ab von die Chaoten!“. „Wird schon jut jehen – schönen Feierabend, Fritze!“. „Danke und jute Fahrt!“. Beim Reden habe ich schon die Wechselkasse eingelegt und mein Fahrscheinbrett befestigt. Die Jacke aufgehängt, Lenkrad und Sitz eingestellt. Handbremse gelöst und los geht’s. Nach 22 Minuten komme ich an der Freudstraße an und rauch die nächste Kippe. Es ist ein recht ruhiger Abend und bis auf drei Fußballfans im Glücksrausch ist alles ruhig. Die Sonne geht unter und die Partygänger kommen aus den Löchern. Noch sind alle nüchtern und es bleibt friedlich. Die Gespräche im Wagen drehen sich alle um die Situation in Prag. Als ich auf der nächsten Tour um kurz vor 21:00Uhr am U-Bahnhof Rathaus Spandau ankomme und nachdem ich mich vorschriftsmäßig bei der Leitstelle melde: „BVG 3, Wajen 3022 Linie 92, der 6. Richtung Freudstraße am Rathaus“, winke ich den Zeitungsjungen ran und kaufe besagte BZ: „Flüchtlinge in Prager Botschaft dürfen Ausreisen – Züge fahren über DDR-Territorium!“. Weiter geht’s und die Gedanken kreisen darum, wie es weitergeht mit der DDR. Was wird sich im Westteil Berlins ändern? Wird sich überhaupt was ändern? Wird die DDR hart gegen ihre eigenen Bürger vorgehen? Selbst die ersten, die abgefüllt von den Partys zurück kommen – sogar die englischen Soldaten kennen nur dieses Gesprächsthema. Es fällt nicht leicht sich auf das Fahren zu konzentrieren. Naja – irgendwie vergeht die Zeit und ich stehe nach der letzen Fahrgastfahrt um 23:20Uhr nachdenklich an der Endstelle Stadtgrenze bei der letzten Bestandsaufnahme der Fahrscheine. Ich zünde mir die letzte Zigarette an und schaue nachdenklich auf die Grenzübergangsstelle Staaken und die Grenzer – nichtsahnend, dass bald eben jene Grenzer nicht mehr schießen werden und diese Grenze von beiden Seiten passierbar sein wird. Die Mauer wird ihren Schrecken und vor allem ihren perfiden Sinn verlieren und Chris Gueffroy wird der letzte Mauertote gewesen sein. Ich fahre die fast leere Heerstraße lang und biege an der Wilhelmstraße links zum Betriebshof ab. „3022, Linie 92 der 6. Wajen!“, „Vor die Halle bitte und schönen Feierabend!“, krächzt der Pförtner rüber. Ich stelle den Wagen ab, bringe das Seitenschild in die Schilderkammer und gehe abrechnen. Ich gebe das Geld und meinen Fahrzettel ab und rede noch kurz mit den Kollegen. Dann hab ich noch zwei Stunden Hofdienst von Mitternacht bis um zwei Uhr. Ich fahre ein paar Wagen durch die Wäsche und dann zum Tanken und schließlich in die Reihe. Bald ist Feierabend. Als ich im Auto sitze und die Heerstraße nach Hause entlangfahre, ahne ich immer noch nichts von den Trabbis die hier in sechs Wochen fahren werden. Ich schließe die Wohnungstür auf, rede mit meiner Frau und sehe im Fernsehen endlich die bewegenden Bilder aus Prag. Ich trinke mein Bier aus und wir gehen schlafen. Nichtsahnend, dass sich heute jene Entwicklung fortsetzte, die mit der Wahl Gorbatschows begann, sich mit der Grenzöffnung in Ungarn fortsetzte und an deren Ende der Mauerfall am 9. November 1989 und die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 stehen sollte. Der 30. September 1989 gehört zu jenen Tagen, an denen innerhalb weniger Stunden mehr passiert als sonst in Jahrzehnten...

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